Literatur trainiert das Hirn wie Sport die Muskeln

Biedenkopf (sval). Goethes „Faust“, Lessings „Nathan der Weise“ oder Büchners „Woyzeck“ stehen seit Generationen als literarische Werke in den Lehrplänen des Deutschunterrichts am Gymnasium. Aber sind sie überhaupt noch zeitgemäß? Können die Menschen heute noch etwas mit der Sprache aus deren Entstehungszeit anfangen? Um diese Fragen ging es bei einer Lesung und anschließendem Workshop mit der aus Russland stammenden Autorin Olga Martynova an der Lahntalschule Biedenkopf. Martynova vertritt dabei eine klare Meinung: Erst wenn Literatur anspruchsvoll ist und die Leser vielleicht nicht alles gleich verstehen, entfaltet sie erst ihre volle Wirkung. Dann nämlich fordert sie den Leser, regt ihn zum Nachdenken an und trainiert sein Gehirn – ganz ähnlich wie es Sport mit Muskeln macht. Nur wenn diese gefordert werden, können sie auch wachsen. Um den Schülern dies zu vermitteln, hatte Martynova eines ihrer Essays mitgebracht, in dem sie sich kritisch mit der Entwicklung der Literatur und der Wechselwirkung zwischen der deren Schöpfern und ihren Rezipienten auseinandersetzt. „Es ist ein polemischer und provokativer Text“, warnte die Schriftstellerin ihre Zuhörer. Aber gerade deswegen eigne er sich ja auch, um darüber zu diskutieren. Darin stellt Martynova die These auf, dass „die Vereinfachung und Verblödung der Literatur“ zu ebensolcher bei den Lesern führe. Früher galt als angesehen, wer ein wichtiges literarisches Werk gelesen habe. Heute hingegen ist es cool, genau das nicht zu tun, schreibt Martynova in ihrem Text. Dabei ist genau das der falsche Weg, betont die Autorin. Für sie ist die Entwicklung des Menschen mit dem Lesen verknüpft, was sie mit einem Zitat von Blaise Pascal verdeutlicht: „Unsere ganze Würde besteht im Denken.“ Nicht das Lesen belangloser Trivialliteratur, die mehr oder weniger nebenbei konsumiert werde, reize die Hirnwindungen, betonte Martynova, sondern die anspruchsvollen, mitunter als schwer empfundenen Werke tun dies. Das hätten ihr auch Wissenschaftler bestätigt: Wer 15 bis 30 Minuten am Tag liest, verbessere dadurch seine Hirnleistung. Und die Schüler gaben ihr dabei sogar Recht. Anspruchsvolle Literatur wie etwa Goethes „Faust“ oder Hoffmanns „Sandmann“ ermöglichten es, viel tiefer in das jeweilige Werk einzutauchen, stellte eine Schülerin fest. Eine andere verwies darauf, dass viele literarische Werke, obwohl sie schon mehrere hundert Jahre alt sind, oft noch immer einen starken Bezug zur heutigen Zeit hätten. Eine solche Nachhaltigkeit biete leichte Literatur selten. Allerdings solle man nicht dem Fehler verfallen, gute und wertvolle Literatur mit klassischer gleichzusetzen, wandte eine Schülerin. Auch heute gebe es neben der Massenware Autorinnen und Autoren, die anspruchsvolle Werke erschüfen und dafür auch Abnehmer fänden. Deswegen waren sich die Schüler einig, dass auch in Zukunft noch weiter gelesen werde. Nur wandelten sich vielleicht irgendwann die Werke und an die Stelle von Goethe und Lessing träten andere Autoren, die heute modern sind, aber in einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten zu den Klassikern gehören.

Olga Martynova erörtert zusammen mit den Deutsch-Leistungskursschülern an der LTS die Bedeutung der Literatur in der heutigen Zeit